Ungarn zieht sich aus einer der zentralen Institutionen der internationalen Strafgerichtsbarkeit zurück. Mit 134 Ja-Stimmen, 37 Gegenstimmen und sieben Enthaltungen stimmte das ungarische Parlament einem Gesetzesvorschlag der Regierung zu, der den Austritt aus dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) besiegelt. Die rechtsnationale Fidesz-Partei unter Ministerpräsident Viktor Orbán nutzt dabei ihre Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament, wie zum Beispiel die Tagesschau meldete.
In der Begründung zum Gesetz heißt es, der IStGH sei eine «politisch motivierte juristische Institution», die nicht mehr den Grundprinzipien objektiver internationaler Rechtsprechung folge. Ungarn sehe daher keinen Platz für sich in einem solchen Gremium. Damit stellt sich das Land offen gegen die übrigen 26 EU-Mitgliedstaaten.
Für besondere Brisanz sorgt der zeitliche Zusammenhang mit einem Staatsbesuch des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu in Budapest. Im April, kurz vor der offiziellen Verkündung des Austritts, hatte Orbán den israelischen Regierungschef empfangen – just zu einem Zeitpunkt, als der Internationale Strafgerichtshof einen Haftbefehl gegen Netanjahu und dessen früheren Verteidigungsminister Joav Galant wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen im Gazastreifen erlassen hatte.
Gemäß den Statuten des IStGH wäre Ungarn als Vertragsstaat verpflichtet gewesen, den israelischen Premierminister festzunehmen. Doch Orbán stellte im Vorfeld des Besuchs klar: Man werde den Haftbefehl ignorieren. «Dieses Gericht ist zu einem Mittel der Politik degradiert worden», erklärte er vor laufenden Kameras – mit Netanjahu an seiner Seite. Die Entscheidung zum Austritt wurde in diesem Kontext auch als politische Geste der Solidarität mit Israel verstanden.
Die Entscheidung markiert einen weiteren Tiefpunkt im Verhältnis zwischen Budapest und Brüssel. Schon seit Jahren steht die Orbán-Regierung wegen ihres angeblich autoritären Regierungsstils, der vermeintlichen Aushöhlung von Rechtsstaatlichkeit und ihrer migrationspolitischen Alleingänge in der Kritik.
Allerdings muss man hinter diese Kritik ein dickes Fragezeichen setzen. So stehen andere EU-Ländern, deren rechtsstaatliche Standards erodieren, kaum je am Pranger. Beispielsweise nimmt Griechenland selbst in der Rangliste der Pressefreiheit der nicht unbedingt objektiven Organisation Reporter ohne Grenzen Platz 89 ein – in Europa ganz am Schluss –, während Ungarn auf dem viel besseren Platz 68 liegt. In Griechenland ist die Unabhängigkeit der Justiz, die an Ungarn oft bemängelt wird, schon seit jeher nicht gewährleistet – ohne dass dies Brüssel stört.
Und dass die EU beispielsweise russische Medien zensiert und nun sogar die deutschen Journalisten Alina Lipp und Thomas Röper mit Sanktionen belegt hat (wir berichteten), beweist, dass «Pressefreiheit» selbst in der Union nichts weiter als ein Schlagwort ist. Ganz zu schweigen von den totalitären Tendenzen der ehemaligen deutschen Innenministerin Nancy Faeser und dem Bestreben des Verfassungsschutzes, die AfD zu delegitimieren.
Rechtlich wird der Austritt Ungarns voraussichtlich in einem Jahr wirksam – das Statut von Rom, auf dem der IStGH basiert, sieht eine einjährige Frist ab der offiziellen Rücktrittserklärung vor. Politisch aber hat die Entscheidung bereits jetzt weitreichende Folgen.
Juristische Fachkreise und Menschenrechtsorganisationen reagierten besorgt auf die ungarische Entscheidung. Der IStGH sei ein zentrales Instrument zur Aufarbeitung schwerster internationaler Verbrechen, sagte etwa der ungarische Jurist und frühere Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, András Sajó. «Ein EU-Staat, der sich dem entzieht, sendet ein fatales Signal – nicht nur an Täter, sondern auch an Opfer.»
Kritiker argumentieren aber schon länger, der IStGH zeige in seinem Entscheidungsprozess Voreingenommenheit. Die USA und Israel sowie weitere Staaten erkennen den IStGH nicht an, unter anderem, weil sie Eingriffe in die eigene staatliche Souveränität befürchten. Der Gerichtshof mit Sitz im niederländischen Den Haag verfolgt seit 2002 besonders schwerwiegende Vergehen wie Kriegsverbrechen oder Völkermord.
Noch ist unklar, ob der Schritt Ungarns Nachahmer finden wird. Zwar gab es in der Vergangenheit bereits Austrittsankündigungen – etwa von Staaten wie Burundi oder den Philippinen –, doch ein EU-Mitglied, das den IStGH verlässt, ist ein Novum.
Der Fall könnte damit auch eine Nagelprobe für die außenpolitische Kohärenz der Europäischen Union werden.